Berlin, 2015-10-12

Wieviel der Kritik an Liquid Democracy ist fundiert?

The English Version has a few differing paragraphs from the German one.

Nach angeregten Gesprächen wurde ich gefragt, wieviel von der aufgestapelten Kritik auf der (ehemaligen) Wikipedia-Seite zu Liquid Democracy eigentlich Hand und Fuß hat. In der Zwischenzeit haben Wikipedia-Autoren auch gemerkt, dass der Artikel nur aus wilden Thesen bestand, und ihn kurzerhand entfernt. Auch nicht ideal, da die Ersatzbegrifflichkeit "delegated voting" nicht impliziert, dass der Vorgang 1. jederzeit veränderbar und 2. transitiv sein muss, um liquid democracy zu sein. Sollte jemand also jemandem eine Vollmacht für die Hausversammlung ausstellen, dann ist das zwar delegated voting, aber noch lange keine liquid democracy. Also was ist liquid democracy nun?

Fangen wir bei der Eindeutschung an: liquid sollte nicht mit "flüssig" sondern mit "fließend" übersetzt werden. Es geht im englischen Original um den fließenden Übergang von Basisdemokratie zu repräsentativer Demokratie. Man nimmt der Demokratie dadurch eine gewisse Starre, aber deshalb verflüssigt sich nicht alles. Im Gegenteil, durch die verlängerte pluralistische transparente Debatte entsteht ein neuer Grad an Rationalität und Seriösität, welche man in der herkömmlichen Polik allzuoft vermisst.

Der Rest dieses Textes bezieht sich auf die zum Glück nur noch in Archiven existente Version des 'Liquid Democracy'-Artikels. Tröstlich, dass in dieser Propaganda-Schlacht die Wahrheit fünf Jahre zu spät doch noch siegen darf. Stellt sich noch die Frage, welche Mächte sich zur Spitzenzeit der Piraten dermaßen gefährdet fühlten, dass sie nicht nur in Wikipedia derlei Manipulation aufgefahren haben:

Stärken als Schwächen verkaufen: Bessere Beteiligung

Beeindruckend, die Neutralität von Wikipedia. Da wird eine inkorrekte Behauptung schon zum Titel des Paragraphens, als sei es eine Tatsache: Illusion stärkerer Beteiligung der Bürger am Willensbildungsprozess. Die extrem beeindruckende Zahl, dass über zehntausend, also knapp ein Drittel aller Parteimitglieder, 2012 politisch auf der Plattform aktiv waren, obwohl sie als nicht bindend galt, ist ein Erfolg an den noch keine andere Partei anstinken konnte. Dennoch wird hier der Spin betrieben, dass es doch eine Schande sei, dass nicht 100% der Mitglieder mitgemacht hätten — was vollkommener Unsinn ist: es ist normal in jeder Partei, dass die Mehrheit passive Sympathisanten sind. LD könnte somit sehr wohl die beste pragmatische Form der Bürgerbeteiligung in der Politik sein, da man nunmal nicht jeden Tag einen Volksentscheid abhalten kann.

"Es war in LiquidFeedback keine Abstimmung zu finden, an der sich mehr als 800 Mitglieder beteiligt hätten. Meist waren es weniger als 300, also weniger als ein Prozent aller Mitglieder."

Wohl wohl. Nirgendwo in der Politik ist 1% der Bevölkerung alltäglich miteinbezogen. Angesichts der Diskrepanz zwischen der Anzahl der Parlamentarier, welche zudem nur alle 5 Jahre ausgetauscht werden dürfen, und der Millionen, die zuhause vor der Glotze sich aufregen dürfen, ist ein ganzes Prozent eine unglaublich gute Zahl. Was erst, wenn solch eine Plattform nicht nur bindend, ja sogar mit Regierungsmacht ausgestattet wäre? Endlich ermöglicht eine Internet-Technologie die tatsächliche Beteiligung aller Bürger an allerlei politischer Belange. Selbst wenn nur 1% interessiert wäre, ein gewaltiger Fortschritt gegenüber jetzt. Worauf warten wir noch, auf das Abklingen des Nachhalls des Spins? Darauf, dass sich jemand erbarmt, echte Fakten in den Wikipedia-Artikel einzupflegen? Zum Beispiel folgende:

Im März 2015 erst haben Forscher der Uni Mainz und Köln in einem Paper namens Voting Behaviour and Power in Online Democracy: A Study of LiquidFeedback in Germany's Pirate Party herausgearbeitet, wie demokratisierend eine LD-Plattform für eine Partei sein kann. Wie die viel diffamierten sogenannten "Superdelegierten" in Wirklichkeit das Demokratieverhalten stabilisieren, Versuche von Demagogie und Manipulation wirkungsvoll entgegentreten.

Stärken als Schwächen verkaufen: Transparenz des Vertrauens

Nun zur Kritik. Das Vertrauen als nicht-transitive Beziehung ist eine durchaus problematische Eigenschaft der repräsentativen Demokratie, welche durch LD immerhin erst offensichtlich gemacht wird. Eine unglückliche Delegation kann daraufhin eine Entscheidungsgrundlage sein für zukünftigere geschicktere Delegation. Hier wird also ein Vorteil von LD, welches einen problematischen Aspekt der repräsentativen Demokratie illustriert und den Bürger ermächtigt, für zukünftige Wahlvorgänge umzudisponieren, als Schwäche hingestellt. Ich habe für so etwas niederträchtiges nur 4 Buchstaben: Spin. Ausserdem wird gar nicht erwähnt, dass die Fähigkeit jederzeit die Delegation zu wechseln, ohne den nächsten Wahltermin abwarten zu müssen oder sich mit anderen Wählern absprechen zu müssen, eine ganz neue Qualität der Repräsentation garantiert

Stärken als Schwächen verkaufen: Wahltransparenz

Zur Unmöglichkeit, geheime und zugleich nicht manipulierbare Abstimmungen durchzuführen erstmal die Feststellung, dass das so nicht stimmt: Es existieren sehr wohl cryptographische Verfahren zur Umsetzung von geheimer Wahl dessen korrekter Ablauf mathematisch nachweisbar ist. Das Problem dabei ist allerdings die Nachvollziehbarkeit solch einer technisch aufwendigen Wahlmethodik durch die Teilnehmer, besonders in Anbetracht der heutigen Computertechnologie, welche sowohl in Hardware wie Software dramatisch ausgehöhlt bis substantiell kaputt ist. Man entscheidet sich also lieber bewusst dagegen, geheime Wahlen elektronisch abzuhalten. Es existieren allerdings Implementationen von LD, welche solch eine cryptographische geheime Wahloption anbieten - falls man in kleinen Gruppierungen diese Nutzen möchte.

Geheime Wahlen sind ein Instrument der Lobbyisten

Grundsätzlich wird von jenen, die sich noch nicht ausreichend mit der Problematik beschäftigt haben, die Möglichkeit der geheimen Wahl arg überbewertet. Damals, als diese in Verfassungen eingeführt wurden, sollten sie einer Erpressbarkeit der Abgeordneten entgegenwirken. Heutzutage hat sich eher das Gegenteil als Mechanismus der Korruption etabliert: Will der Abgeordnete seinem Lobbyisten einen Gefallen tun, benötigt sie oder er die geheime Wahl um die Beeinflussung anschließend abstreiten zu können. Dabei gibt es sogar wissenschaftliche Arbeiten, die der geheimen Wahl ein negatives Urteil ausstellen:

We found that the imposition of the secret ballot always increases the scope of vote buying — more people vote insincerely under the secret ballot than under the open ballot. We also found circumstances where, paradoxically, the imposition of the secret ballot makes it easier for interest groups to wield influence. In particular, for close elections where the bulk of the supporters of an interest group's desired policy are lukewarm, it is cheaper for that interest group to buy the election under the secret ballot than under the open ballot. Taken together, this suggests that the common intuition about the effectiveness of the secret ballot as a robust deterrent to electoral corruption needs to be revisited.

Dank LD verändert sich die Sachlage vollständig, was ausgerechnet auf Sizilien besonders bewusst angenommen und erlebt wurde: Die 5-Sterne-Bewegung (welche auf nationaler Ebene eine wenig demokratische Organisation ist, aber das ist eine andere Geschichte) hat ihren Wahlerfolg auf einem Programm aufgebaut, welches mittels LiquidFeedback erarbeitet wurde — von Personen mit echtem Profilfoto und offen dargestelltem Vor- und Nachnamen. Das Mutterland der Mafia ist ihr politisches Krebsgeschwür satt. Das Stillschweigen, die sogenannte Omertà, wird als die Wurzel des Übels der mafiotischen "Demokratie" erkannt. Sie haben offen und transparent diskutiert und entschieden, weil die Skalierbarkeit, die Partizipation, der Schlüssel ist, um der vermeintlichen Notwendigkeit von geheimen Wahlen entgegenzutreten. Wenn hunderte oder tausende gemeinsam die richtige Entscheidung treffen, was soll der Mafia-Politiker dagegen tun? Wo will der Lobbyist ansetzen?

Da weder gesteuerte Meinungsmache, noch Korruption oder Erpressung sonderlich gut oder lange in Liquid Feedback funktionieren, bleibt den Spin Doctors nur die Option, dessen Akzeptanz von Aussen kaputt zu machen. Das Image der Liquid Democracy selbst anzuschwärzen. Dieser Plan ist offenbar gelungen, vorerst. Während das bei den deutschen Piraten ach so verpönte "Klarnamenliquid" einen Achtungserfolg hinlegen konnte, als Instrument der Befreiung.

Die Bedeutsamkeit der desinteressierten Mehrheit

"Einige Kritiker..." Wer denn? "bezweifeln jedoch ohnehin, dass es in der Bevölkerungsmehrheit einen Wunsch nach mehr Partizipationsmöglichkeiten (übers Internet) gebe."

Nanu, schläft die Qualitätskontrolle bei Wikipedia bei politisch gefärbten Themen? Seit wann wird Hörensagen geduldet? Und dieser Sprachstil! Aber selbst wenn dieser Aspekt richtig wäre, ändert es nichts daran, dass zehntausende interessierter Politik-Bürger bessere, vor allem korruptionsfreie Politik gestalten, als dutzende oder hunderte gewählter Berufspolitiker. Somit ist es angesichts dem katastrophalen, trostlosen Zustand unserer repräsentativen Demokratie ein Quantensprung in eine bessere Zukunft, wenn alle, denen es nicht egal ist, was hier passiert, endlich Mitentscheidungsrecht erhalten.

Das Umfrage-Institut FORSA stellte damals sogar fest, dass die Piratenpartei repräsentativ für den deutschen Durchschnitt sei. Somit wären die politischen Empfehlungen des piratischen Liquid Feedback näher an den Interessen der Gesamtbevölkerung gewesen, als der Bundestag.

Das Ende der Diktatur der Aktiven

Somit ist die Aussage der "Führungsakademie Baden-Württemberg" interessengetragener Unsinn: "[Die] große Schwäche [von LD] ist [...] die Annahme vom politisierten Bürger als Regelfall. Tatsächlich findet Politik im Internet aber nur in einer kleinen Nische statt und bietet dort allenfalls eine neue Spielwiese für die auch außerhalb des Internets politisch Interessierten und Aktiven."

Liquid Democracy erwartet eben nicht, dass jeder Interesse oder Kompetenz mitzumachen besitzt. Die Aussage LD sei kein Instrument um die Diktatur der Aktiven zu bekämpfen ist unreflektiert. Erstens ist die Diktatur der Aktiven eben jene, bei der die Passiven nicht per Delegation mithineinwirken — also die gewöhnliche Basisdemokratie. Ausserdem ist es wohl eine seltsame Form der Diktatur, wenn die Passiven jederzeit aktiv werden und die Macht zurückfordern können. Da hapert es einfach total an der Argumentationslogik.

Oh nein, die Pöbelherrschaft!? Ernsthaft?

Aristoteles ist in der Tat einer der wenigen Philosophen, der in Abwesenheit des Internets lieber die Dominanz einer kompetenten Führungselite empfiehlt. Dies im LD-Artikel zu erwähnen ist demagogische Irreführung, denn da könnte man auch dutzendweise Denker aufführen, die sich für eine echte Demokratie stark gemacht haben. So oder so konnten diese Herrschaften das Internet nicht voraussehen, somit ist deren Erwähnung müßig.

Sinnvoller wäre es stattdessen Lenins demokratischen Zentralismus zu zitieren, welcher letztlich an der Unfähigkeit scheiterte, tatsächliche demokratisch repräsentative Entscheidungen zu treffen. Wäre eine glaubhaft legitime Teilhabe in der Welt vor dem Internet realisierbar gewesen, dann wäre der Sozialismus womöglich nicht zu einem oligarchisch-totalitären Apparat degeneriert.

Auch aus anarchistischer Perspektive könnte LD das fehlende organisatorische Glied sein, um Konzepte der Self-Governance nicht nur in kleinen Projekten, sondern auch auf große Bevölkerungsgruppen hochzuskalieren. Nicht ohne Grund wurde LD hier und da in Betracht gezogen, wenn es um die Umsetzung eines Commons ging, etwa im Sinne von Elinor Ostrom. An geistigen Müttern und Vätern mangelt es der LD nicht wirklich.

Liquid Democracy muss von kollektiv-rationaler Methodik begleitet werden.

"Direkte Teilhabe aller immer ergibt [...] nicht zwangsläufig bessere Ergebnisse, sondern lässt nur alle sich mehr wohlfühlen."

Wenn nicht alle Teilnehmer ernsthaft von der Debatte und der Qualität der Argumentation überzeugt sind, dann sind sie zerstrittener und unzufriedener denn je. Der Grund warum die Berliner Piraten so beeindruckend derselben Meinung in so unterschiedlichen Bereichen wie Netz-, Sucht- und Sozialpolitik sein konnten, war laut einer Umfrage unter den Mitgliedern hauptsächlich dem liquiddemokratischen Verfahren zu verdanken, welches eben nicht geeignet ist zur Verabschiedung von demagogischen Schnellschüssen.

"Problematisch dabei sei der Dunning-Kruger-Effekt, d. h. der Umstand, dass in der Realität Inkompetente sich oft ihrer Inkompetenz nicht bewusst seien und deshalb nicht ihre Stimme delegierten, obwohl sie eine komplexe Sachfrage nicht sachgerecht beurteilen könnten."

Die oben zitierte Forschungsarbeit zu 'Voting Behaviour' hat sich genau mit diesem Problem beschäftigt und festgestellt, dass Personen im Laufe ihrer Auseinandersetzung mit Liquid Feedback zunehmend vorsichtigere, erfahrenere Entscheidungen treffen. Ausserdem werde der Last-Minute-Entscheidungstourismus durch die Superdelegierten kompensiert. Wenn eine LD-Plattform unter mangelhafter Teilnahme leidet, etwa wenn ihre Resultate gar nicht bindend sind, dann wird die Rolle der Superdelegierten als stabilisierender Faktor relevant.

Nichtsdestotrotz könnte man den Fluss des Entscheidungsprozesses in der Software dahingehend verändern, dass erst eine längerfristige Auseinandersetzung mit einem Thema zur positiven Abstimmung berechtigt. Wer spät zu einer Debatte kommt, sollte nur noch durch eine Negativbewertung eine Verabschiedung verhindern können, quasi als last minute veto, nicht als last minute Durchwinkvorgang, wie wir sie von unseren Parlamenten allzu schmerzhaft kennen — somit lasse sich nicht mehr durch in der letzten Minute plazierter Werbeaktivität in externen Medien (Twitter, E-Mail) eine positiv abstimmende Mehrheit anlocken, lediglich vermutet falsche Entscheidungen aufhalten.

Politische Verantwortung? Die trägt doch eh der Steuerzahler.

"Wer entscheidet, muss zumindest politisch verantwortlich gemacht werden können."

Das Prinzip wird von LD gar nicht ausser Kraft gesetzt. Zu jedem erfolgreichen Antrag gibt es auch Köpfe, die rollen können. Und wo es keine Vorstände gibt, da muss es Umsetzungsverantwortliche geben. Man kann allerdings große Teile der Entscheidungsgewalt ins Kollektive holen, und dort auch die Verantwortung ansiedeln. Schließlich zahlt in der Politik ja sowieso am Schluss meistens das Kollektiv und nicht der einzelne Politiker. Von welcher Verantwortung reden wir also, wenn nicht lediglich von einer Kultur des angemessenen Rücktritts, welche seit einigen Jahrzehnten ebenfalls abhanden gekommen ist?

In der Schweiz hat man festgestellt, dass in Kantonen, wo der Finanzplan direktdemokratisch verabschiedet wird, eine erheblich vernünftigere Haushaltsdisziplin eingehalten wird. Gerade die repräsentative Politik legt es den Amtsträgern doch nahe, durch politischen Aktionismus möglichst auf sich aufmerksam zu machen. Geld spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Diese Korruptionsresistenz der direkten Demokratie manifestiert sich auch in der Liquid Democracy.

Und da war sie.. ganz unerwartet: Die kollektive Intelligenz

"Die Piraten müssen noch nachweisen, dass sie mehr sind als der institutionalisierte Ausdruck des Machtanspruchs der Unwissenden."

Das zeigt allein schon die überragende Qualität der Anträge, wenn eine ausreichende Menge (hunderte, tausende) von Personen darübergegangen sind. Die durch LD ans Tageslicht getretenen Effekte von kollektiver Intelligenz waren ausgesprochen beeindruckend. Nirgendwo konnte eine unwissenschaftliche Aussage unkritisiert durchflutschen. Nirgendwo konnte eine demagogisch populistische Initiative undemaskiert die Abstimmungsphase erreichen.

"Dem Modell der liquid democracy liegt eine bestimmte Vorstellung von Rationalität zugrunde, das auf dem Konzept der kollektiven Intelligenz fußt, welches auf der Annahme beruht, dass bessere Lösungen gefunden werden, wenn viele statt wenige an Entscheidungen mitwirken."

Das ist inkorrekt. Kollektive Intelligenz ist das Phänomen, welches beim Einsatz der Technologie nachträglich festgestellt wurde — es war zu keinem Zeitpunkt eine vorausgehende Prämisse.

"Das Konzept der kollektiven Intelligenz vermag nicht, das Gemeinwohl davor zu bewahren, durch Partikularinteressen untergraben zu werden."

Wie bitte? Die Partikularinteressen müssten also erfolgreich eine ganze Gruppe von Zehntausenden von Entscheidern überzeugen, statt wie in der jetzigen Repräsentativarchitektur wenige Dutzend beeinflussen zu müssen? Perfektion ist politisch unerreichbar, aber dieser Kritikpunkt trifft auf den jetzigen Status Quo eindeutig mehr zu, als auf Liquid Democracy.

Weg mit den Parteivorständen

Dem Absatz zu Liquid Democracy als innerparteiliches Organisationsprinzip ließe sich anfügen, dass es in Italien inzwischen zwei Gruppierungen gibt, die LD als Assemblea Permanente, also quasi als ständige Mitgliederversammlung, verwenden, und damit auch recht alltägliche Entscheidungen bewältigen, weswegen die herkömmlichen repräsentativen Vorstände durch eine Reihe von Spezialbeauftragten und zusätzlichen Kontrollgewalten im Sinne der Gewaltenteilung ersetzt werden konnten. Sowohl Partito Pirata sowie nun auch die Lista Partecipata verwenden hoffnungsvolle Modellen für eine tiefgreifende Erneuerung des demokratischen Systems. Mehrere Bundesländer der deutschen Piraten haben das Konzept der ständigen Mitgliederversammlung inzwischen teilweise übernommen.

Ständige Mitgliederversammlungen sind auch in der Piratenpartei Österreich und dem deutschen Glitzerkollektiv üblich, allerdings in Kombination mit einem traditionellen Vorstand.

Der juristische Rahmen schützt vor Demagogie.

Zur Abwehr von demagogischen Schnellschüssen ist es zudem eine juristische Notwendigkeit, dass der Vollversammlung nicht erlaubt wird, höherstehende Entscheidungen infrage zu stellen. Wenn also beispielsweise beschlossen wurde, dass die Menschenwürde unantastbar ist, dann kann die ständige Versammlung nicht im Eilverfahren eine Ausnahmeregelung verabschieden, wonach bestimmte Kriminalitätsverdächtigte gefoltert werden dürfen. Dieses Prinzip der juristischen Entscheidungskonsistenz muss von einem geeigneten Organ umgesetzt werden. Bei den deutschen Piraten war das entweder der Vorstand oder 2-3 Mal im Jahr der Bundesparteitag. Die italienischen Piraten haben hierzu stattdessen ein Integritätskonzil ins Leben gerufen, dessen einzige Aufgabe es ist, neutral zu bewerten, ob die Debatten sich im legalen Rahmen früherer Grundsatzentscheidungen bewegen — es wurde somit eine weitere Säule der Gewaltenteilung geschaffen, statt die Macht über solch eine juristisch formale Entscheidung zu vertagen oder an die Führungskräfte zu übergeben.

Keine Banalisierung des Abstimmungsvorgangs

Hier wiederholt sich die Argumentation im Wikipedia-Artikel. Wie man Last-Minute Entscheidungstourismus begegnen kann haben wir bereits besprochen. Ausserdem hat die Forschungsarbeit diese Befürchtung als nicht in den faktischen Daten realistisch zurückgewiesen. Wikipedia wiederholt sich. Wie peinlich.

Von wegen digitaler Spaltung

Anschließend wird die Argumentation der desinteressierten Mehrheit unter anderem Vorzeichen wiederholt. Wir wissen aber, dass auch wenn nicht alle Bürger teilnehmen können, es auf jeden Fall ein politischer Fortschritt hin zu echter Demokratie ist, wenn eine erheblich repräsentativere und insbesonders korruptionsresistente Prozentuale politische Entscheidung trifft, als es im derzeitigen Parlamentarismus der Fall ist.

Immerwieder verlangen Meinungsmacher dem LD-Konzept ein Ideal politischer Perfektion ab, um davon abzulenken, was für ein enormer Fortschritt LD hinsichtlich des Status Quo ist.

Das war's dann wohl

Somit muss ich nach 5 Jahren Praxiserfahrung mit Liquid Democracy sagen — an der Kritik war nicht viel dran. Es wurde ein Instrument geschädigt, welches nach wie vor die beste Hoffnung für eine politische Erneuerung sein sollte — ganz im Sinne meines 4-Punkte-Plans zur Rettung der Menschheit.         :-)

Als sich 2013 der Kollaps der deutschen Piraten abzeichnete, sind auch Bauwens, Lovink und Morozov auf den Anti-LiquidFeedback-Spin hereingefallen. So praktisch, nicht die wahren Gründe in der Soziologie zu verorten — welche ja unangenehm, schwierig zu begegnen und irgendwie banal wirkt. Die Piraten sind somit quasi weg — die Trolls, Shitstorms und Fake-News, die ihren Untergang geprägt haben, sind aber immernoch da — wie etwa, dass Liquid Feedback ach so viele Schwächen habe.

Meinungsmanipulation ist allgegenwärtig geworden, und der Wikipedia-Artikel zur Liquid Democracy ist nur ein Beispiel dessen. Möglichkeiten, wie man die liquiddemokratische Methodik weiter verbessern kann, sind durchaus vorstellbar und in intensiver Diskussion — aber es sind ganz andere als die dort aufgeführten Punkte, und sie werden eher von jenen debattiert, welche intensiv LD eingesetzt und Erfahrung damit gesammelt haben. Die von Wikipedia zitierten Autoren der Kritik haben das wohl eher nicht getan.

Bezeichnend, wie auf der italienischen Wikipedia-Seite all diese Kritik gar nicht aufgeführt wird. WIRED hatte sich 2012 damit profiliert, möglichst viel der deutschen Miesmacherei aufzugreifen. Angesichts der neuen Forschungsergebnisse haben nun auch sie gewaltig zurückgerudert und der Liquid-Democracy-Technologie nachträglich eine gute Zukunft in Aussicht gestellt. Italien ist nun wohl das Vorreiterland hinsichtlich LD, mit über sieben politischen Gruppierungen, welche LiquidFeedback einsetzen und Projekten wie TuParlamento, welche LD in Senat und Abgeordnetenhaus getragen haben. Letzteres scheiterte lediglich am Glauben der Bevölkerung, dass ihr tatsächlich Mitspracherecht eingeräumt werde. Daran müssen sich Italiener erst gewöhnen. Nach 20 Jahren Berlusconi einfach zu gut um wahr zu sein.

Wieviele Jahre Merkel haben wir jetzt eigentlich schon? Kann es sein, dass auch wir einfach nicht wahrhaben wollen, dass jemand anderes auf den genialen Ansatz gekommen ist, wie man das Internet endlich tatsächlich für eine bessere Demokratie nutzen kann, statt nur als Überwachungsmaschinerie? Dabei müssen wir uns echt nicht schämen, dass wir nicht die ersten waren, die sich LD ausgedacht haben. Einer der ersten Denker, der sich mit den mathematischen Grundlagen von Liquid Feedback auseinandergesetzt hat, war Lewis Carroll, der Autor von "Alice im Wunderland."

Zusatz: Kritik an Präferentialdelegation

In Bayern wurde eine alternative Version von LQFB mit dem stolzen Namen "Pirate Feedback" erstellt. Diese enthält einige interessante Erweiterungen, aber die wichtigste Eigenschaft ist die Abschaffung der transitiven Delegationen, ersetzt durch sogenannte Präferenzdelegationen. 2015 haben die Entwickler von Liquid Feedback eine wissenschaftliche Analyse dieser Präferenzdelegationen nachgelegt, welche deren Defizite mathematisch nachweist. Kurzum: Wer frei nach Bauchgefühl die Mathematik der Liquid Democracy verändert, darf sich nicht wundern, dass sie anschließend kaputt ist.

Zusatz: Kritik an Adhocracy des Liquid Democracy e.V.

Ebenfalls kritisch ist die Art und Weise, wie Liquid Democracy in Adhocracy umgesetzt wird — sofern sie überhaupt zum Einsatz kommt. Da Teilnehmende erst delegieren können, nachdem sie sich mit jeder Fragestellung auseinandergesetzt haben, statt wie in LQFB ganze Themenbereiche delegieren zu können, auch wenn sie im Urlaub sind, ist die weiter oben beschriebene Schutzfunktion gegen die "Diktatur der Aktiven" ausgehebelt. Das Instrument wird somit ungeeignet, viele oder schnelle Entscheidungen zu treffen, etwa — wie in Italien praktiziert — als Ersatz eines herkömmlichen Vorstands. Adhocracy ist nach wie vor eine gelungene Softwarelösung für Volksbeteiligung — immer dann, wenn die Teilnehmer sich untereinander gar nicht kennen und somit kein Fundament für sinnvolle Delegation besteht — mit Liquid Democracy hat es aber dann genaugenommen nichts mehr zu tun. Ist somit etwas verwirrend, dass der gleichnamige Verein zwar tolle Arbeit leistet, aber gar keine LD mehr praktiziert.

—lynX

Last Change: 2018-06-18




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CC-BY-SA, carlo von lynX