Berlin, 2011-11-11

Wann kommt endlich die Alternative, wo der ganze Datenschutzschladderadanz in vernünftige Bahnen gelenkt ist, und den alle auch verwenden?

2012, und alle Welt ist immernoch auf Facebook.

Schon 2003, mit dem Aufkommen von Friendster, ging es los, dass Open-Source-Entwickler sich um offene Alternativen bemühten, aber die waren nie so toll, als dass die Welt sie beachtet hätte. Strotzten hingegen von verkopften Utopien des Semantic Web. Derweil folgten Myspace, Xing, StudiVZ und mehr, bis letztlich Facebook kam und so viele Menschen anlockte, wie kein soziales Netzwerk zuvor. Seither hat es dermaßen viele schlechte Schlagzeilen gehagelt, dass sogar unter den durchschnittlichen Facebook-Anwendern das Interesse an einer gangbaren Alternative entstand.

Diese Gelegenheit nutzten vier amerikanische Studenten und ließen sich Diaspora durch einer großen Anzahl von Mini-Spenden finanzieren. Ein Vertrauensvorschuss, allein für das charmant vorgetragene Versprechen, man werde eine privatsphärenfreundliche Lösung zum Facebook-Problem entwickeln.

Die Open-Source-Entwicklerschaft erwischte dies kalt, die hatte sich gerade schön um Richard Stallman versammelt, welcher die Besten der Besten einlud, um "GNU Social" zu erfinden. So sollte die freie Antwort auf Facebook heissen, und alles was Rang und Namen hatte, oder noch bekommen sollte, war auf dessen E-Mail-Verteiler, sogar ein Aussteiger vom Twitter-Team.

GNU Social ist inzwischen ein weitgehend eingeschlafenes Projekt, die Teilnehmer sind jedoch ausgeschwärmt und haben zahlreiche Facebook-Alternativen entwickelt. Das World-Wide-Web-Konsortium W3C hat sich dieser Projekte angenommen und veranstaltet "Federated Social Web" Treffen, in denen sich die Entwickler auf gemeinsame Schnittstellen einigen, damit jedermann einen eigenen Server betreiben kann, und diese Server alle untereinander Daten austauschen — vergleichbar zum E-Mail-System. Fördertöpfe stehen auch bereit, aus denen mehrere semi-universitäre Projekte finanziert wurden.

Man sollte meinen, alles ist bestens, aber dem ist nicht so. Nur eine verschwindend geringe Menge an Menschen verwendet freie Social Networks, und einen Facebook-Account haben sie trotzdem, denn alle anderen Freunde sind ja immernoch da. Was läuft da schief?

Update 2015: Um 'GNU Social' nicht als verstorben erklären zu müssen, hat es die eigene Codebasis verworfen und das ein wenig erfolgreichere Status.net übernommen. Nun kann man damit immerhin einen dezentralen Twitter-Ersatz betreiben, solange nicht zuviele Personen mitmachen und man dem Glauben anhängt, dass soziales Austauschen in die totale Öffentlichkeit gehört statt in den Rahmen des sozialen Umfeldes. Der Originalerfinder von Status.net, Evan Prodromou, hat derweil ein neues Projekt gestartet, welches gar nicht erst versucht mit anderen Servern zu kommunizieren.

Zum einen fehlt den Alternativen der Reiz, etwas besonderes zu bieten, was Facebook nicht hat. Selbst Google ist dabei, daran zu scheitern. Zweitens stellt sich die Frage, ob es vom Datenschutz her nicht genauso schlimm ist, wenn statt zentral bei einem Anbieter nun die Daten auf dutzende oder hunderte Server verteilt sein sollen, alle unter unterschiedlicher Verwaltung.

Ausserdem will das mit der Last nicht klappen. Die wenigen Anwender beschweren sich, dass ihre Mitteilungen mitunter verzögert oder gar nicht bei Teilnehmern anderer Server ankommen. Wie soll das erst funktionieren, wenn eines Tages bitteschön die gesamte Menschheit mittels offenen Standards sozialisieren soll?

Warum ist das nicht genauso einfach wie mit E-Mail? Nun, das liegt vermutlich an der Kommunikationsstruktur in sozialen Netzwerken. E-Mails sind immernoch in großer Menge für einzelne Adressaten bestimmt. In sozialen Netzwerk ist jedes popelige "heute ist das Wetter aber Mist" und jedes "gefällt mir" eine Nachricht, die eine one-to-many Verteilung einfordert. Hunderte, tausende Empfänger können angesprochen sein. Manche sozialen Netzwerke verwenden deshalb den Ansatz, die Neuigkeiten periodisch abzufragen, statt sie auszusenden, was auf Dauer noch schlechter funktioniert.

Das Problem der one-to-many-Verteilung wurde schon in den frühen 90er Jahren erkannt. Die Lösungen hießen damals NNTP, IRC und IP Multicast. Alle drei haben den Auftrag auf unterschiedliche Art verfehlt und zwanzig Jahre später sind wir kaum schlauer. Nur Firmen wie eben Google und Facebook haben sich Verteilungsnetzwerke zurechtgelegt, die wir zwar gnädigerweise benutzen dürfen, aber für unsere offenen Initiativen nicht hilfreich sind. Stattdessen locken sie auch E-Mail-Anwender auf ihre Server, weswegen E-Mail auch nicht mehr ist, wie es mal war:

Während Google nun eine Infrastruktur besitzt, mit der es ein und dieselbe E-Mail binnen Sekundenbruchteilen an Abermillionen von Benutzern verteilen kann, muss sich der freie Serverbetreiber darauf einstellen, dass der Server sogar bei der Verteilung an nur tausend Leute locker eine Stunde beschäftigt sein kann. Das Mailprotokoll SMTP hat im Gegensatz zu beispielsweise Bittorrent einfach keinen Standard für die effiziente Verteilung von Nachrichten, weswegen Google das Verteilungsproblem einfach intern in der Cloud gelöst hat — zum exklusiv eigenen Vorteil. SMTP kommt erst auf den letzten Metern zum Einsatz, während die effiziente Verteilung bis an die äußeren Gliedmaßen des Googleversums schon erledigt ist.

Ganz zu schweigen von der großen Menge an Menschen, die lieber in Facebook oder anderen Cloudsystemen mailen und messagen, und sich vom offenen Standard fast vollständig abgelöst haben. Ganze junge Generationen, die E-Mail nur noch als uncooles Ding alter Leute kennen, um mit alten Leuten zu reden. Alles eine logische und vorsehbare Entwicklung, wenn man bereit ist ideologisches Denken abzuschalten.

Ein weiteres Henne/Ei-Problem stellt die Notwendigkeit dar, dass Nutzer einen "Geek" kennen müssen, einen Serververwalter, dem sie bereit sind, alle Geheimnisse anzuvertrauen, denn jede Nachricht zwischen der Henne und potentiellen Hähnen liegt mindestens auf dem Webserver in unverschlüsselter Form vor. Etwas anderes lässt die Web-Architektur gar nicht zu. Auch in diesem Fall ist es vielen Personen egal, dass amerikanische Geheimdienste alles mitlesen können, Hauptsache der Administrator in der Firma oder am Lehrstuhl sieht das nicht. Die Jahrzehnte alte Federation-Ideologie des 'Betreibe-Deinen-eigenen-Server' schießt am tatsächlichen Bedarf einfach vorbei.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass folgende Probleme nach wie vor vollkommen unzureichend gelöst sind:

  1. Skalierbarkeit auf Nutzung durch die gesamte Menschheit
  2. Wahre Privatsphäre durch Verschlüsselung von Person zu Person
  3. Irgendwas besonderes, damit es mehr leistet als Facebook
  4. Quelloffen um Vertrauen zu schaffen und frei zu sein
Gute Bedienbarkeit und Dezentralisierung verstehen sich von selbst, obwohl die auch erst hinbekommen werden müssen.

Somit wird klar, dass noch mehr helle Köpfe gebraucht werden, um dieser Herausforderung Herr zu werden. Der FoeBuD möchte mit vielen Verbündeten eine große Kampagne führen, um Menschen von Facebook wegzulocken, aber zuerst muss eine empfehlenswerte Alternative gefunden sein. Dies ist die Aufgabe der neuen Arbeitsgruppe "Social Swarm."

Update 2015: FoeBuD heisst inzwischen digitalcourage, Social Swarm hat in Anbetracht der Snowden-Enthüllungen die Entstehung eines noch tiefer ansetzenden Projektes ausgelöst, welches in bitterer Ironie youbroketheinternet heisst und auf der Suche ist nach einem vollständigen, sicheren Ersatz für den gesamten maroden Protokollstapel des jetzigen Internets und Wildwest-Webs. Das GNU Consensus Projekt hält das jetzige 'GNU Social' für ein Nischenprodukt und sucht nach einem besseren Ansatz für Personen, denen die Privatsphäre tatsächlich wichtig ist.

—lynX




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CC-BY-SA, carlo von lynX